Gothic 3
Es könnte das beste Rollenspiel aller Zeiten werden. Sechs Monate vor dem geplanten Erscheinungstermin ist Gothic 3 jedoch ein Sammelsurium von Einzelteilen, die noch nie zusammengesetzt wurden. GameStar besuchte die spannendste Spiele-Baustelle Deutschlands.
Mike Hoge sagt: "Uns wird manchmal vorgeworfen, wir würden konzeptlose Dinge machen". Wir stehen in einem Wohnhaus in Essen, dem Hauptquartier von Piranha Bytes, und haben gerade herausgefunden, dass die neueste Version der Gothic 3-Engine nicht funktioniert. Das Beleuchtungssystem schmiert ab, keine Spielvorführung also. Es gibt kein Spiel. Es gibt nur Ideen von einem Spiel, Teile eines Spiels, die bisher nie komplett zusammengesetzt wurden. Vor drei Monaten, fast eineinhalb Jahre nach Entwicklungsstart, lief auf der Spielemesse E3 zum ersten Mal eine Figur durch eine unbelebte Welt, die vielleicht wie Gothic 3 aussehen könnte. Zur Games Convention Mitte August war die nächste Inkarnation fertig, Piranha hatte Nachtschichten gemacht. 20 Mann bauen in Essen parallel an Animationen, Landstrichen, Aufgaben, die zusammengefügt mal das wichtigste deutsche Rollenspiel werden sollen, vielleicht das beste der Welt. Wie es am Ende aussehen wird, das weiß hier niemand. Noch nicht einmal Mike Hoge, der Gothic-Vater. Konzeptlosigkeit? Hoge zuckt die Schultern. Sie haben schließlich Gothic 2 gemacht, auf genau die gleiche Weise. Es ist das populärste Rollenspiel Deutschlands. Dann beginnt Hoge zu erzählen, und seine schwirrenden Ideen kitten die Bruchstücke auf den Bildschirmen zu einem Spiel, das ein Meisterwerk werden könnte - und ein würdiger Nachfolger für Gothic 2.
Willkommen zuhause!
Zur Erinnerung: Im ersten Gothic flieht der namenlose Held aus einem Gefängnistal, im zweiten Teil rettet er die Inselwelt Khorinis vor einem Angriff der Drachen und setzt am Ende Segel in Richtung Festland. Dort beginnt Gothic 3 im kleinen Fischerdorf Ardea - mit einer handfesten Auseinandersetzung. Denn der Ort wird gerade von den Orks überrannt. Die haben - wie im zweiten Serienteil prophezeit - den Krieg mit den Menschen gewonnen, ein Großteil des Reichs Myrtana ist von den Eindringlingen besetzt. Menschen werden als Arbeitssklaven gehalten. Ein klares Feindbild? "Es ist nicht alles so wie es scheint", orakelt Mike Hoge. Denn weitere Probleme plagen das Land. So funktioniert ein Zweig der Magie auf einmal nicht mehr - keiner weiß, warum. Je weiter Sie in der Handlung vordringen, desto mehr sollen zudem die Gothic-Götter eine Rolle spielen. Und auch der zwielichtige Supermagier Xardas feiert sein Comeback; ob als Freund oder Feind, das soll von ihrem Spielweg abhängen. Statt der bisherigen drei plant Piranha sechs Fraktionen, denen Sie sich anschließen können, darunter Orks, Rebellen und Assassinen. Wem Ihre Loyalität gehört, dürfen Sie gut überlegen; die Handlung zwingt nicht mehr sofort in eine Gildenzugehörigkeit. Ungefähr zur Hälfte des Spiels wird aber eine grundlegende Entscheidung fällig sein.
Haudrauf-Zauberer
Wer Sauren verhauen und Plagen geschlagen hat (Anm. d. Abschreibers: hä? was soll das bedeuten?), der ist kein Heldenlehrling mehr. Entsprechend kriechen Gothic 3-Heroen nicht in der Windelrüstung herum, sondern liegen kräftemäßig von Anfang an "irgendwo zwischen einem schwachen und einem mittleren Ork". Das grundlegende Charaktersystem bleibt, wird aber leicht erweitert. Lernpunkte, mit denen Sie neue Fähigkeiten erwerben, teilen sich in ein Kontingent für Attribute, ein zweites für Talente. Zudem zahlen Sie jetzt Lehrgeld: "In Gothic 2 musste man eigentlich kein Geld ausgeben, außer für Rüstungen. Nun ist Lernen kostenpflichtig." Dafür dürfen Sie Ihren Charakter weiterhin nach Ihrem Gusto gestalten. "Wir wollen keine festgelegten klassen", sagt Mike Hoge, "der Spieler entwirft seine klasse selbst" - egal ob zaubernder Kampfmeister oder blitzeflinker Langfinger mit Mörderbizeps. Entsprechend werden die Gilden nicht mehr monothematische Kämpfer- oder Zaubererverbände sein wie in Gothic 2, sondern politische Bünde ähnlich dem ersten Serienteil, deren Mitglieder sich in jede Richtung entwicklen können. Spezialisierung lohnt sich trotzdem, denn konsequente Steigerung eines Attributs will Piranha belohnen. Je höher der Wert, desto bessere Spezialfähigkeiten werden erlernbar; Hoge nennt sie "Perks", das Konzept hat er vom Rollenspiel-Klassiker Fallout abgeschaut. Zwar ist das Perk-System zurzeit nichts weiter als eine Idee, Hoge entwirft trotzdem Beispiele aus dem Stegreif: doppelter Schaden gegen Orks, Mana-Regeneration, verlängerte Sprintzeit. Rund 40 Perks sind angedacht, alle erlernbar, wenn Stärke, Geschick oder Magiefähigkeit hoch genug sind. Voraussetzung dafür sind ein Lehrer, genügend Bargeld - und unter Umständen der richtige Beruf.
Auf Jobsuche
Bereits in Gothic 2 konnten Helden bei Harad Schmieden lernen, mit Constantino Kräutertränke brauen oder für Bosper auf Jägerpirsch gehen. Der dritte Teil verdoppelt das mittelalterliche Berufsspektrum, zu den drei bekannten Jobs gesellt sich unter anderem der Gladiator. Wer in diesem Zweig Karriere macht, kloppt sich in Arenen mit waffenstarrenden Widersachern, verdient sich damit aber auch Respekt bei den Orks - die Besatzer wissen jeden zu schätzen, der sie potenziell umhauen könnte. Die Berufswahl soll nicht mehr exklusiv sein, Motivierte dürfen in allen Branchen aufsteigen. Zur ausbildung gehören Missionen, die von zielgerichteten aufträgen bis hin zu langfristigen Nebenbeschäftigungen reichen. "Das ist ein Spiel im Spiel", schwärmt Hoge: So könnten etwa Jäger die Anweisung bekommen, von jedem Tier der Spielwelt ein Exemplar zu erlegen. 50 Kreaturen sind derzeit geplant, darunter seltene wie mächtige. Lohn der Mühe ist der Zugang zu besonderen Fähigkeiten und Waffen.
Waffen und Magie
Beim Kriegsgerät soll's vor allem zauberhaft zugehen: Rüstungen und Waffen können nun auch magische Fähigkeiten besitzen. So schützt die Nordmar-Rüstung vor der Kälte in den eisigen Nordregionen des Landes, die an der Konstitution ungepolsterter Helden nagt. Alternativen gibt's freilich immer: Wer auch ohne Spezialpanzer warm bleiben will, spart auf den Perk "Kälteresistenz". Den Waffen nimmt Mike Hoge die Attributsbeschränkungen ("ab Stärke 50"): "Ich halte eine solche Limitation für unnötig." Denn: "Waffen werden erst durch die Talente richtig gut." Weil Sie wie gehabt Kampfbewegungen lernen, ist der Drehschwinger mit dem Rostschwert unter Umständen doch effektiver als der Stich mit der zentnerschweren Totenkopfaxt. Gute Nachricht: Das umständliche Inventar baut Piranha komplett neu und übersichtlich. "In Gothic 2 hatten wir dafür schlicht keine Zeit", entschuldigt sich Hoge; das Spiel wurde in elf Monaten entwickelt. Die Arbeit am Magiesystem hat Piranha noch nicht mal begonnen, im Team kursieren nur Ideen. Mindestens 40 Zaubersprüche sollen es werden, einige davon neu. Das Magiekreissystem, das bisher mit jedem Kapitel der Handlung wuchs, ist nun vom Spielfortschritt entkoppelt. Damit ambitionierte Helden nicht schon das Startdorf mit Kometenschauern einäschern, gibt's Superzauber wie die Todeswelle nur noch als Einweg-Schriftrolle. Dämonenbegleiter werden mächtiger, lassen sich aber nur an speziellen Schreinen beschwören, die über das Land verteilt sind.
Von der Wüste ins Eis
Im Osten und Westen Meer, im Norden und Süden gebirge - das ist der Rahmen für die Welt, in der Ihr Held nach Abenteuern stöbert. Das Land besteht aus drei Zonen: In der Mitte Myrtana, das Mittelreich, grün und saftig und brodelnd vor Konflikten. Darüber liegt Nordmar, die eisgegend, in der beißende Kälte und gefährliche Schneebiester regieren. Im Süden glüht die Wüste Varant, an deren Rand sich kleine siedlungen drücken und in deren Mitte die Knochen von Abenteurern in gewaltigen Ruinen bleichen. Dornenkuppeln thronen über den Baldachinen der Marktstände, in Gitterkäfigen bieten Sklavenhändler ihre Opfer feil. Jede Region hat ihre eigene Population von Kreaturen, inklusive einem Chefmonster, das an der Spitze der Nahrungskette steht. In den Wäldern jagen Wölfe im Rudel, über die Grassteppen ziehen Herden, die auf den Spieler reagieren sollen und bei Beschuss angreifen oder panisch das Weite suchen. Zudem bevölkern jetzt auch harmnlose Wildtiere die welt - die einst gefürchtete Blutfliege zum Beispiel kratzt kaum an der Rüstung erfahrener Helden, Piranha hat sie zur Dekoration degradiert. Die Scavenger-Laufvögel sind dagegen noch eine Gefahr, weil sie im Rudel agieren. Das alles trägt zur Glaubwürdigkeit einer Welt bei, die so abwechslungreich und lebendig, wie vertraut werden soll - eben wie die der Vorgänger. "Gothic 2 war sehr klischeehaft, der erste Teil hatte einen dreckigeren Look", sagt Horst Dvorczak, Chefgrafiker bei Piranha Bytes. "Da wollen wir wieder hin." Ein paar Monate lang hatte das Team versucht, die Landschaft automatisch generieren zu lassen. Das Ergebnis entsprach nicht den Erwartungen. also kehrte man zum bewährten System zurück: "Wir bauen alles von Hand."
Viele kleine Städte
Die Landschaft ist fertig modeliert, momentan konstruieren die Grafiker die Städte im Mittelreich Myrtana, danach kommt die wüste dran.. Der Dungeon-Anteil im spiel soll gering ausfallen, dafür wird es zahlreiche Höhlen, Verstecke und Geheimräume geben - "Lieber hundert kleine Dungeons als ein großer", kommentiert Mike Hoge. Umgebaut wird auch bei den Städten. Zwar gibt es davon ungleich mehr, die Rede ist von rund zwanzig. Die bleiben allerdings überschaubar, verspricht Horst Dvorczak: "Die größte Stadt ist halb so groß wie Khorinis", die Hauptstadt von gothic 2. Entsprechend verteilen sich die wichtigen Nichtspielercharaktere besser auf die Welt. "Du redest in einer Stadt nicht mehr mit 50, sondern nur noch mit zehn Personen." Das Navigationssystem der Spielbewohner will Piranha stark verbessern, die Stadtmenschen sollen sich frei bewegen, ohne hängen zu bleiben. Auch der Tagesablauf bekommt mehr Varationen spendiert. Berufstätige werkeln an ihrem Arbeitsplatz, gehen abends auf ein Bier in die Kneipe, besuchen Bekannte oder bummeln auf dem Marktplatz. Sobald die Sonne untergeht, versammeln sich Orks zum Feiern, Trommeln und Tanzen. Hauptcharaktere bleiben aber immer am gleichen Ort.. Zudem kennt jede Stadt in Gothic 3 verschiedene Zustände: frei, belagert, im Aufstand. Denn welche Fraktion einen Ort beherrscht, kann sich ändern. Im späteren Spielverlauf sollen sie sogar Rebellionen anstiften und für ihre Partei Feindstädte unterwerfen.
Tote Auftraggeber
Die spielerische Freiheit und die Lust aufs neugierige Erforschen der Welt, herausragende Markenzeichen der Gothic-Reihe, sollen auch die Grundtugenden des dritten Teils sein. Attributsbeschränkungen bei Waffen, Kapitelbindungen der Zauberkreise, Fraktionszwang, Klassensystem - wo künstliche Begrenzungen eingerissen werden können, schwingen Mike Hoge und sein Team die Abbruchkugel. Wer sich ungehindert in der Welt bewegen will, soll genauso erfolgreich spielen können wie Leute, die konsequent von Storymission zu Storymission springen. Eine der weiteren Freiheiten: Das Erfüllen einer Mission hängt nicht mehr davon ab, ob man den Auftrag schon angeboten bekommen hat. Es hängt nicht mal davon ab, ob der Auftraggeber noch lebt. Wenn Sie sich zum Beispiel mit einer Räuberbande anlegen, ohne zu wissen, dass der Schmied im Nachbardorf gutes Geld für das Ableben der Banditen geboten hat, dann bekommen Sie trotzdem sofort einen Erfahrungsbonus gutgeschrieben. Den Goldbeutel gibt's freilich erst, wenn Sie den Schmied aufsuchen und ihm auf sein klagen antworten, das Problem sei schon längst aus der Welt geschafft. Alternativ spitzen Sie die diebesfinger oder legen den guten Mann einfach um - jede Person soll alle Gegenstände bei sich tragen, egal ob Belohnungen oder wichtige Schlüssel. Wo die Handlung weitergeht, will Piranha auch stromernden Abenteurern klar machen: "Es wird immer den Typen geben, der in roter Rüstung in der Mitte des Martplatzes steht uns sagt: Junge, geh nach Norden!"
Fünfmal mehr Polygone
Das Fundament der feinen Spielwelt ist die Gothic-Engine, seit dem zweiten Teil komplett neu gebaut und zum größten Teil von Piranha selbst programmiert. Das Grafikgerüst setzt auf eine detaillierte Architektur bei hoher Polygonzahl. Eine typische Hüttenwand etwa besteht nicht aus einer Fläche mit Holztextur, sopndern aus einzelnen Brettern, zwischen denen das Tageslicht ins Innere scheint. Die Wände von Steinhäusern sind dagegen massiv. dafür verleihen Normal Maps dem Gemäuer eine plastische Struktur, die auf Lichteinfall reagiert. Netter Kniff: Nur an den Ecken haben die Grafiker einzelne Steine modelliert, damit Häuserkanten realistisch aussehen. Dynamische Lichter und Schatten gehören zum guten Ton. Apropos Ton: Die Orchestermusik wurde im Juli von den Bochumern Symphonikern eingespielt, Komponist Kai Rosenkranz macht gerade Nachaufnahmen mit Solisten und bereitet die epischen Melodien für das Spiel vor. als Ergebnis des technischen Detailreichtums zielt Gothic 3 auf High-End-Hardware. Allerdings soll die Engine so skalierbar sein, dass das Spiel - mit Detaileinbußen - auch auf normalen Rechnern noch läuft.
Wir haben lange gesprochen, dem Team über die Schultern gesehen, hier eine Editorszene verfolgt und dort eine Animation beobachtet, jetzt sitzen wir im Couchzimmer und stellen die große Frage: "Wann kommt's?" Die Einzelteile, die Ungewissheit, Horst Dworzcak kaut auf seiner Unterlippe. "1. Quartal 2006 ist zu machen." Er muss das sagen. Die Version für die Games Convention, die eine Woche später fertig sein soll, wird das Team drei Tage zu spät abgeben. (Autor: Christian Schmidt)
Fazit
Selten war es so schwer, den Status eines Projektes einzuschätzen. Die Teile und Ideen, die Piranha bisher gesammelt hat, sind großartig - der Geist der Gothic-Serie durchdringt alles, was das Team macht. Inhaltlich habe ich deshalb nicht die geringste Sorge, die Vorfreude auf das Spiel ist riesig. Ob auch die Technik aktuellen Ansprüchen genügt, wird sich allerdings zeigen. Schon Anfang 2006? Ich tippe eher auf Sommer.